Mit Pferden Menschen helfen
- Therapeutisches Reiten
von Bernhard Ringbeck
Referat zum Thema "Tiergestützte Therapie"
anläßlich des zehnjährigen Bestehens des Vereins "Tiere helfen Menschen, e.V." in Würzburg, 1997
1. Vorbemerkung
Jubiläen feiern heißt zunächst einmal, sich über das Erreichte freuen und mit vielen liebgewordenen Menschen diesen Augenblick gebührend zu feiern. Dies, denke ich, haben wir hier in Würzburg in entsprechender fröhlicher und festlicher Art und Weise getan.
Und zu diesem Anlaß darf ich Ihnen zu allererst auch im Namen des Vorstandes des Deutschen Kuratoriums für Therapeutisches Reiten Dank sagen für das, was Sie in den zurückliegenden Jahren aufgebaut haben und Mut und Schaffenskraft wünschen für die noch hoffentlich vielen vor Ihnen liegenden Jahre des Engagements für "Tier und Mensch".
Jubiläen sollten aber nicht nur ein Anlaß zum Feiern sein, sondern auch Gelegenheit geben, Bilanz zu ziehen, Rückschau zu halten, Perspektiven für die zukünftige Arbeit aufzuzeigen oder Begründungen zu liefern, warum sich jeder einzelne von uns für diesen Einsatz interessiert und engagiert.
Im folgenden möchte ich Ihnen den Einsatz des Pferdes für Menschen ein wenig näher bringen und aufzuzeigen versuchen, warum gerade das Pferd so vielfältige Möglichkeiten der Persönlichkeitsunterstützung bei der heranwachsenden Jugend bietet.
Im Verlauf dieser Tagung und anhand der ständigen Videopräsentation konnten Sie sich ja bereits ein wenig mit der Thematik des Therapeutischen Reitens vertraut machen.
Seit Mitte der 70er Jahre unterteilen wir unter dem Oberbegriff "Therapeutisches Reiten" drei große Bereiche, die sich allerdings im einzelnen überschneiden können:
- Medizin
Die Hippotherapie ist eine physiotherapeutische
Behandlungsmaßnahme auf neurophysiologischer Grundlage,
die ärztlich verordnet und überwacht sowie von speziell
ausgebildeten Physiotherapeuten durchgeführt wird. - Pädagogik / Psychologie
Unter dem Begriff "Heilpädagogisches Reiten und Voltigieren"
werden pädagogische, psychologische, psychotherapeutische,
rehabilitative und soziointegrative Angebote mit Hilfe des Pferdes
bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit verschiedenen
Behinderungen oder Störungen zusammengefaßt.
Dabei steht nicht die reitsportliche Ausbildung, sondern die
individuelle Förderung über das Medium Pferd im Vordergrund,
d. h. vor allem eine günstige Beeinflussung der Entwicklung der
Motorik, des Verhaltens und des Befindens. Im Umgang mit dem
Pferd wird der Mensch ganzheitlich angesprochen: körperlich,
geistig, emotional und sozial.
- Sport
Das Reiten und Fahren bietet als Sport für körperlich behinderte
Menschen eine besondere Möglichkeit, im Kontakt mit
Nichtbehinderten sportlich aktiv zu werden.
Vom DKThR lizensierte Reitausbilder bieten speziellen Unterricht
und Hilfsmittel zur Kompensation der individuellen
Bewegungseinschränkungen an, so daß neben der körperlichen
Rehabilation der Behinderten auch eine Integration im sportlichen
Wettkampf stattfinden kann.
Soweit der allgemeine Überblick über das Therapeutische Reiten.
Erlauben Sie mir bitte aufgrund der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit und aufgrund meines beruflichen Hintergrundes einige Anmerkungen zu dem Einsatz des Pferdes bei Kindern und
Jugendlichen, zu der Bedeutung für eine positive Entwicklung gerade in der heutige Zeit.
2. Veränderte Kindheit
Seit 1975 versuche ich meine eigene "Pferd-Mensch-Beziehung" in der pädagogisch-psychologischen Arbeit bei verhaltensauffälligen, lern- und geistigbehinderten Kindern aus verschiedenen Institutionen (wie Sonderschulen, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Volkshochschule, Schulpsychologie und Grundschule) zum Tragen kommen zu lassen.
Dieser Zeitraum, denke ich, ist lang genug, um sagen zu können, daß sich die Kindheit verändert hat. Wer darüber hinaus die entsprechende Fachliteratur und offizielle Statistiken (so z. B. Deutsches Jugendinstitut 1993) konsultiert, wird gegenüber seiner eigenen Kindheit feststellen können, daß sich unsere heutigen Kinder vor allem mit drei für eine gedeihliche Persönlichkeitsentwicklung zentralen Veränderungen auseinandersetzen müssen:
- erstens: Kindheit ist heute vor allem Medien-Kindheit, d. h. eine
über visuelle und akustische, olfaktorische und gustatorische,
haptische und motorische Sinnesreize weitgehend sekundär
vermittelte Realität. - zweitens: Kindheit ist heute überwiegend Einzel-Kindheit
(in 53 % der Ehen lebt nur ein Kind), d. h. eine Realität, in der
häufig eine "Verinselung", soziale Schrump- fung und Egozentrik
mit geringer Frustrationstoleranz und dem
Nicht-Aufschieben Können von Bedürfnissen besser gedeihen als
Gemeinsinn und Wirgefühl. - Kindheit ist drittens: Bedrohte Kindheit, d. h. die
Scheidungsproblematik, der Anstieg an Gewalt
in der Familie (3 - 5 % körperlicher Mißhandlung,
8 - 12 % seelischer Mißhandlung und eine hohe Dunkelziffer bei
dem sexuellen Mißbrauch) lassen nach Feststellung des nordrhein-
westfälischen Sozialministeriums zwei Drittel dieser Kinder mit
psychischen Störungen reagieren.
Sie werden fragen, was haben diese Aufzählungen mit dem Heilpädagogischen Voltigieren und Reiten zu tun!
In den letzten Jahren stelle ich verstärkt fest, daß ich immer mehr Kinder erlebe, die aufgrund der o.a. Bedingungen auf der einen Seite extrem verängstigt und verunsichert, oft mit Tränen in den Augen vor mir stehen, häufig enttäuscht von den labilen Beziehungsangeboten ihrer Eltern nur sehr vorsichtig mit mir Kontakt aufnehmen wollen oder ich erlebe auf der anderen Seite sehr dominante Kinder, mit falscher Selbsteinschätzung ihres Könnens bis hin zur schnellen Erregbarkeit und aggressivem Verhalten. Allen diesen Kindern ist gemein, daß sie in der Regel kein adäquates Selbstwertgefühl entwickeln konnten, sei es aus ständiger körperlicher oder seelischer Verletzung, sei es aus Überbehütung und Verwöhnung.
Und wie gut, daß wir für diese Kinder als Helfer bei der Beziehungsarbeit ein Pferd einsetzen können! Denn ein Pferd wirkt zunächst einmal auf fast alle Kinder wie ein Magnet, und es regt an zum
- Hinschauen und Betrachten
- zum Streicheln und Berühren
- zum Füttern
- zum Genießen und Entspannen
- zum Träumen
- zum Horchen auf die Geräusche
- zum Riechen
und es macht neugierig auf den Umgang, auf das Reiten oder Voltigieren.
Weiterhin sind die Pferde geduldige Zuhörer, ihnen werden häufig die Sorgen anvertraut, bei ihnen wird Trost und Zuwendung gesucht und unsere Erfahrungen gehen dahin, daß gerade enttäuschte und verschlossene Kinder über die Beziehungsbrücke "Pferd" sich wieder für den Mitmenschen öffnen können.
3. Wirkfaktoren im Heilpädagogischen Voltigieren
Beim Voltigieren führen die Kinder allein, mit einem oder zwei Partnern im Schritt oder Galopp gymnastisch-turnerische Übungen auf dem Pferderücken durch. Das Pferd geht hierbei auf einem Kreisbogen an der Longe. Außerdem werden am und mit dem Pferd verschiedene Mitlaufübungen und Bewegungsspiele absolviert und durch den Einsatz von Materialien bereichert.
Weiterhin ist die gesamte Versorgung des Pferdes, wie z. B. die Vorbereitung für die Stunde, die Nachbereitung, anfallende Stallarbeiten, die Beobachtung beim Wälzen oder auf der Weide von großer Bedeutung.
Ich werde immer wieder von Eltern, Lehrern und Kollegen erwartungsvoll gefragt, warum die Kinder eigentlich so gern und vor allen Dingen so regelmäßig zum Voltigieren kommen, was die
Faszination ausmachen würde. Für mich gibt es da nur eine Antwort: Der Umgang mit dem Pferd, ganz gleich ob bei der Pflege, beim Reiten, beim Fahren oder beim Voltigieren fordert den ganzen Menschen und fördert immer die Gesamtpersönlichkeit in den wesentlichen Bereichen der Körperlichkeit, des Sozialverhaltens und in der Emotionalität. Mir sind nur wenige pädagogisch-therapeutische Angebote bekannt, die in so idealer Weise die Gesamtpersönlichkeit des Kindes ansprechen und von den Kindern so akzeptiert werden, ohne es als eigentliche Therapie zu empfinden (das natürliche Umfeld Reitstall).
Beim Voltigieren steht die ständige Erfahrung der Körplichkeit im Vordergrund: Ohne Bewegung ist kein Voltigieren möglich! Und um diese Bewegungserfahrung (auf dem Pferderücken, am Pferd durch unterschiedlichste Bewegungsspiele und Bewegungsangebote bei der Pflege und beim Versorgen des Pferdes) können wir Erwachsene die Kinder häufig nur beneiden.
Auf Lehrgängen erlebe ich es immer wieder, wie sehr auch die Erwachsenen diese Bewegungserfahrungen auskosten und unter welcher Begeisterung und Anteilnahme sie ausprobiert werden. Das Ge- tragen-Werden vom Pferd verlangt immer ein Einlassen des ganzen Körpers auf die Bewegungsimpulse, die vom Pferd in ständiger, aber nie gleichbleibender Form ausgehen.
Das Pferd geht ein ungleichmäßiges Tempo, d. h. es wird langsamer oder schneller. Desweiteren weicht es nach außen oder innen von der Kreislinie ab. Das Voltigierkind muß sich also ständig auf die unterschiedliche Geschwindigkeit und die Abweichungen nach rechts oder links einstellen.
Voltigieren ist aber auch nicht unter Vernachlässigung des Beziehungsaspektes (der Emotionalität) möglich. Wie sehr das Lebewesen Pferd diesen emotionalen Vorgang unterstützt, häufig sogar erst einleitet, haben die meisten unter uns schon erfahren.
Das Spruch "Wo Pferde sind, sind auch Mädchen" hat ganz sicher seine Bedeutung, nur würde ich gerne die Jungen im Alter von 6 bis 12 Jahren hinzuziehen wollen. Da wir in der Schulpsychologischen Beratungsstelle überwiegend Jungen betreuen, das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen beträgt 3 zu 1, bestehen unsere Gruppen zum größten Teil aus Jungen. Ich bin immer wieder fasziniert, welche Gefühle diese Jungen dem Pferd gegenüber zeigen, wie sie sich ihm zuwenden, vorsichtig, behutsam bei der Pflege, die Schmuserunden werden genossen und führen zu einer Losgelassenheit und Entspannung.
Ich will sagen: All die Verhaltensweisen, die wir von den Mädchen her gewohnt sind, stelle ich auch bei den Jungen in der vorher genannten Altersspanne fest. Für mich eine sehr zufriedenstellende und schöne Erfahrung.
Über den Beziehungsaufbau zum Pferd kommt natürlich auch die soziale Komponente ins Blickfeld. Pferd-Kind-Erwachsener beinhalten ja schon die Gruppenkonstellation. Das Pferd wird (häufig im Gegensatz zu den Erfahrungen aus der Erwachsenenwelt, sprich Eltern, Lehrer, Nachbarn) viel schneller akzeptiert, man ist eher bereit, sich auf sein artspezifisches Verhalten einzustellen, sich im eigenen Verhalten danach auszurichten.
Der Voltigierpädagoge muß sich diese Anerkennung in bestimmten Fällen erst noch erarbeiten (so z. B. als positives Verhaltensvorbild, Sicherheit und Behutsamkeit in der Pferdeführung, selbstsicheres Auftreten und Konfliktbereitschaft). Diese grundlegenden Erfahrungen motivieren viele Kinder, sich wieder neu auf Gruppenmitglieder (Gleichaltrige) einzulassen, ihre Stärken und Schwächen zu sehen, zu akzeptieren und Hilfestellungen für den einzelnen zu geben, um somit auch langfristiger gesehen ein Gruppengefühl entstehen zu lassen. Deshalb ist mein Angebot Voltigieren immer auf einen längeren Zeitraum angelegt, Zeitspannen darunter halte ich für nicht verantwortlich. Die Gruppengröße sollte jeweils so sein, daß sich noch jedes Kind angenommen und gefordert bzw. gefördert fühlt.
4. Schlußbemerkung
Auf dem in Genf 1995 abgehaltenen Kongreß über die Beziehung von Mensch und Tier wurde noch einmal darauf hingewiesen, daß durch intensiven Kontakt zu Tieren das Leben lebenswerter, gesünder und auch länger ausfalle.
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