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tt-Texte  |  wissenschaftliche Texte
   


Behinderte Menschen und Hunde

von Sylvia Greiffenhagen und Oliver Buck

Referat zum Thema "Tiergestützte Therapie"
anläßlich des zehnjährigen Bestehens des Vereins
"Tiere helfen Menschen, e.V." in Würzburg, 1997

 

Wir berichten im folgenden über ein Forschungsprojekt, das wir in
Zusammenarbeit mit Reinhold Bergler (Bonn/Nürnberg) vor ca. zwei Jahren begonnen und zu einem großen Teil inzwischen auch durchgeführt haben.
Es geht um die Bedeutung von Hundehaltung für behinderte Menschen. In dem Titel 'Hundehaltung für behinderte Menschen' steckt die Vielfalt möglicher Begegnungsformen zwischen behinderten Menschen und Hunden: Hundehaltung durch die Behinderten selbst, aber auch Hundehaltung durch andere Menschen im Dienste von Behinderten, also z.B. durch Mitwirkende in einem Hundebesuchsprogramm oder durch eine Behinderteneinrichtung selbst.

1. Der Zuschnitt des gesamten Forschungsvorhabens
Das Projekt war ursprünglich großdimensioniert:
in seiner Aspektvielfalt ebenso wie in seinem sowohl qualitativen wie
quantitativen Forschungsansatz. Wir haben inzwischen bei unserem Vorhaben sehr abspeken müssen.
(Das lag an den Fördermitteln, die geringer ausfielen, als zunächst gedacht und gehofft. ) - Aber was wir bisher an Ergebnissen haben, ist wichtig; und weitere Bausteine unseres Projekts, die wir für nötig erachten, werden wir später sicher auch angehen können.

Das Forschungsvorhaben umfaßte im ganzen die folgenden Teile und Schritte: 1995 wurde in einer Vorstudie (Bearbeiterin: Greiffenhagen) der Gesamtrahmen des Projektes abgesteckt, 1996 wurden die ersten Teilaspekte bearbeitet.
Weitere kleinere Teilschritte folgten 1997.
Die Forschergruppe konzentrierte sich bisher vor allem auf erwachsene körperbehinderte Menschen. Durchgeführt wurden nach gründlicher Literaturrecherche zahlreiche Fallstudien (Bearbeiter: Greiffenhagen/Buck; besonders zu dem Thema behinderte Menschen mit ausgebildetem Begleithund sowie zum Thema Hunde in Behinderteneinrichtungen); durchgeführt wurden auch erste repräsentative Erhebungen (Bearbeiter: Bergler; Thema: Behinderte Menschen mit und ohne eigenen Hund).

Weiterhin wurde die Ausbildungssituation von Behindertenbegleithunden analysiert

(Bearbeiter: Buck/Greiffenhagen).

Exkurs: Das Glück des Hundes im Zusammenleben mit einem behinderten Menschen.
Dieser letztgenannte Aspekt ist uns wichtig: der Hund im Zusammenleben mit einem behinderten Menschen. Weil wir auf diesen Aspekt nicht zurückkommen werden, wollen wir unsere Überlegungen über die Situation der beteiligten Hunde unserem Bericht voranstellen, obwohl sie systematisch nicht hierher passen: als Exkurs gleich zu Beginn.
In diesem Teil unseres Forschungsvorhabens steht einmal nicht ausschließlich der Mensch, sondern gleichberechtigt mit ihm der Hund im Mittelpunkt der Betrachtung, genauer: das 'Glück' des Hundes. Was hat ein Hund von seinem Leben mit oder für einen behinderten Menschen?
Was bedeutet das überhaupt: 'Hundeglück'? Diese Fragen sind nicht nur berechtigt, sondern von großer Bedeutung - nicht nur für den Hund, sondern auch für seinen Menschen.

Nehmen wir den ausgebildeten Behindertenbegleithund als ein Beispiel:
Der Hund steht im Zentrum eines Geflechtes vieler Menschen und Gruppen, die sich im engeren oder weiteren Sinn mit der Haltung und Ausbildung von Hunden befassen, die mit einem behinderten Menschen zusammenleben.
Der Hund steht zwar "im Zentrum", aber er kann nicht für sich selbst agieren und sprechen, sondern ist im Blick auf sein Glück auf Anwälte/Fürsprecher angewiesen. (Insofern steht dann natürlich doch eigentlich wieder der Mensch und nicht der Hund im Mittelpunkt dieses Teiles der Studie.)

Die folgenden Überlegungen gelten im Grunde für alle Hunde,
die in einem Behindertenhaushalt leben oder auf einer Behindertenstation einer Einrichtung 'Dienst tun'.
Sie treffen aber auf den ausgebildeten sogenannten Behinderten- Begleithund in besonderer Weise zu.

Haltung und Ausbildung des Tieres müssen dem Tierschutz entsprechen.
(§ 1-3 TSchG).
Der Hund wird als Mitgeschöpf gesehen, dem die entsprechende Würde entgegenzubringen ist).


Daraus folgt:

Haltung und Ausbildung müssen..
- artangemessen (nach neuerer Definition 'tierangemessen') sein
(d.h. das Tier als Individuum, nicht nur als ein Vertreter seiner Art oder Rasse rückt in den Blick)


- die Ausbildung darf kein Leid verursachen,

- das Wohlbefinden des Tieres darf nicht beeinträchtigt werden.

  Daraus lassen sich generelle Forderungen ableiten:
- Der Rahmen der Verhaltensmöglichkeiten des Hundes muß

  eingehalten werden, die individuellen Ansprüche des Tieres müssen

  weitestgehend befriedigt werden,

- die Auswahl der (Behindertenbegleit-)Hunde muß sich an für die

  Aufgabe geeigneten Rassen orientieren,

- die gesundheitliche Eignung des Hundes muss regelmäßig

  überprüft werden.

 

Die genannten Begriffe aus dem Tierschutzgesetz wie 'art- bzw.-
tierangemessen', 'Leid' und 'Wohlbefinden' des Tieres bedürfen der
Interpretation.
Unser Ziel ist - in Zusammenarbeit mit Vertretern des Tierschutzes,
Verhaltensforschern, Hundetrainern und behinderten Menschen - die
Erstellung eines Kataloges von Qualitätsstandards für die Ausbildung von Behindertenbegleithunden und deren Haltung (in der Privatwohnung ebenso wie in einer betreuten Wohnung oder in einer
stationären Einrichtung).
Dieser Teil des Forschungsvorhabens ist noch nicht abgeschlossen.

Ein kleines eigenes Thema stellt sich im Blick auf die amtliche Anerkennung des Behindertenbegleithundes: Im Unterschied zum Blindenhund ist der Behindertenbegleithund in Deutschland bisher nicht als "Hilfsmittel" im Sinne der Kassenverordnung anerkannt.
Die Studie setzt sich (in einem noch ausstehenden späteren Teilschritt) mit den rechtlichen, finanziellen, organisatorischen und ideellen Hindernissen bei der Etablierung des Behindertenbegleithundes als Hilfsmittel auseinander.

Eine weitere Vertiefung der Studie erscheint uns dringend notwendig.
Das gilt im Blick auf die noch sehr kurze Beobachtungszeit für die Fallstudien wie im Blick auf die noch zu geringe Zahl befragter behinderter Menschen, im Blick auf noch nicht oder nicht ausreichend analysierte Gruppen wie Angehörige und Betreuer von behinderten
Menschen (auch Leiter von stationären Einrichtungen), Ärzte und Tierärzte.
Vor allem behinderte Kinder und Jugendliche müssen in einer späteren Phase noch besondere Beachtung erfahren:
Bei ihnen vermuten wir nach den bisherigen Ergebnissen besonders günstige Effekte für die Sozialisation durch den Umgang mit Hunden.

 

2. Hundehaltung entspricht den Prinzipien einer modernen
Behindertenhilfe
Soweit zum Zuschnitt des Forschungsprojektes.
Wir wollen im folgenden nicht, oder nur wenig, von den Ergebnissen unserer Forschung berichten, die sich in einem kurzen Absatz zusammenfassen lassen:
nämlich daß Hunde in vielerlei Hinsicht die Lebenssituation von behinderten Menschen verbessern. Sie erhöhen die Lebensqualität und dienen zugleich der Rehabilitation, Prävention und Integration. Diese Aussage gilt für Hunde generell, in besonderem Maße aber noch für den ausgebildeten Behindertenbegleithund, der (wie der Blindenhund für den Blinden) ein wertvolles 'Hilfsmittel' für den Behinderten darstellen kann.

Wir wissen es alle, daß die Effekte sichtbar, hörbar, spürbar, erlebbar sein können, wenn ein behindertes Kind einen Hund trifft, ihn liebkost, seinen Kopf im Fell des Tieres vergräbt, wenn die beiden aufs Prächtigste kommunizieren.
Der ganze hier vorliegende Tagungsband ist ein Beleg für die heilende Wirkung von Tieren auf Menschen, die allesamt auf unser Thema 'behinderte Menschen und Hunde' übertragen werden können. Gerade deshalb wollen wir im folgenden einen anderen Weg gehen und das Thema 'Behinderte Menschen und Hunde' in einen größeren Kontext einordnen, nämlich in den Gesamtzusammenhang einer modernen Behindertenhilfe.

Von 'Lebensqualität' für behinderte Menschen durch einen Hund war schon die Rede, von 'Rehabilitation', 'Prävention' und 'Integration' durch die Begegnung mit Hunden. Dies alles sind Wirkungen, die im engeren und weiteren Sinn den Prinzipien und Leitzielen einer modernen Behindertenhilfe entsprechen.

Damit ist das entscheidende Stichwort gefallen. Wir haben in unserem Teil des Forschungsvorhabens nicht nur die guten Effekte beschrieben, die ein Kontakt zwischen Menschen und Hunden möglicherweise bewirkt, sondern wir haben versucht, diese Effekte in die gegenwärtig sehr lebhafte fachliche und politische Diskussion um eine angemessene, demokratischen Prinzipien entsprechende Behindertenpolitik und Behindertenhilfe einzuordnen.

- Das nämlich war uns ein wichtiges Ziel: nicht nur darauf hinzuweisen, daß es 'schön' wäre und 'gut', eine Begegnung von
behinderten Menschen und Hunden zu fördern; wir wollten stattdessen unser Anliegen unmittelbar in den aktuellen Diskurs der Fachöffentlichkeit einbringen.
Das geht natürlich nur dann, wenn sich an der Begrifflichkeit, an Prinzipien und Leitbildern dieser Fachdiskussion ansetzen läßt.

Das Thema einer Hundehaltung für und durch behinderte Menschen wurde in der wissenschaftlichen Fachdiskussion zur Behindertenhilfe bisher in seinen Chancen weder aufgegriffen noch überhaupt wahrgenommen.
Das ist überraschend, da gegenwärtige Denkströmungen das Thema
begünstigen müßten:
Die Diskussion um eine völlige Neuorientierung der Behindertenhilfe ist in Gang, und viele der neuen Ziele und Leitlinien, die dieses Fachgespräch prägen (die wichtigsten Stichworte sind, wie gesagt, Rehabilitation, Prävention und Integration), könnten durch das Thema 'Hundehaltung' neue Impulse bekommen.

 

2.1 Als Wissenschaftsthema noch neu:
Tiere in der Behindertenhilfe
Aber davon sind wir noch weit entfernt. In der Behindertenhilfe sind Tiere zwar schon viel länger bekannt als in der Altenarbeit und als bewährtes Medium genutzt (die frühen Formen von Tier- Therapie spielen fast alle in diesem Bereich, ob York Retreat oder Bethel ), aber unreflektiert, unbeforscht und deshalb für die wissenschaftliche - und das heißt heutzutage auch gleichzeitig meist für die politische Argumentation nicht ergiebig. Eine Ausnahme stellt nur der Blindenhund dar: Über ihn wurde schon früher gearbeitet, auch und gerade in Deutschland. Auch das Feld der Reit-Therapie ist besser beforscht. Oliver Buck hat die angelsächsische, französisch- und deutschsprachige Literatur daraufhin gesichtet, was dort über Tiere in der Behindertenarbeit publiziert worden ist.
Das Ergebnis seiner Recherchen war ernüchternd: Nur ein kleiner Teil der einschlägigen Schriften sind diesem Thema gewidmet; in den 'Klassikern' (die es auch auf dem Feld der Mensch-Tier-Beziehung inzwischen gibt) findet sich kaum ein Hinweis zum Thema Behinderte Menschen und Tiere:
Tiere kommen in der Theorie der Mensch-Tier-Beziehung kaum vor, obwohl sie sich in der Praxis der Behindertenhilfe überall tummeln.
In der Gerontologie muß heute kein Wissenschaftler mehr um seinen Ruf fürchten, wenn er auf Tiere im Alter abhebt.
Im Gegenteil: Alten-Experten, die für Hund, Katze oder Vogel im Altenheim werben, sind inzwischen schon eine vertraute Erscheinung. Ganz anders ist das Bild bei den Leitwissenschaften der Behindertenhilfe: In Pädagogik und Sonderpädagogik findet sich kaum ein Experte, der seine Stimme für Tiere erhebt.

Kein Wunder, daß deshalb im Zuge der gegenwärtigen Sparmaßnahmen Pferde und Reittherapien abgeschafft werden oder doch überall davon bedroht sind; kein Wunder, daß das Futter für die Kleintiere auf der Station oder die Esel und Ziegen im Freigehege nicht mehr bezahlt werden können.
Abgeschafft wird, was nicht 'notwendig' ist. Tiere gelten in der
Fachöffentlichkeit der Behindertenhilfe noch immer als unnötiger Luxus: weil man ihre guten Effekte nicht wahrnimmt und - eben nicht thematisiert.

Was für die wissenschaftliche Fachöffentlichkeit gilt, gilt in der Folge auch für die politischen und verbandlichen Schlüsselpersonen, für Träger und Kostenträger der Behindertenhilfe.
Stellungnahmen von Behindertenbeauftragten einzelner Bundesländer oder von führenden Menschen in der verbandlichen Arbeit machen - mit wenigen sehr erfreulichen Ausnahmen - eindeutig klar, daß man mit unserem Thema wenig bis gar nichts anfangen kann.
Im Gegenteil: Es gibt dort zum Teil auch erbitterte Gegner. Entsprechend gering ist die Bereitschaft, finanzielle oder auch nur ideelle Unterstützung zu geben.

Worum es also künftig gehen muß, ist, das Thema Tiere - in unserem Fall zugespitzt auf Hunde - in die wissenschaftlich-fachpolitische Diskussion einzubringen. (Natürlich wendet sich unser Projekt auch an die breite Öffentlichkeit. Aber nachhaltiger und deshalb wichtiger wäre die Aufnahme des Themas in die engere Fachöffentlichkeit!)

 

2.2 Eine neue Sicht des behinderten Menschen
Gegenwärtig wird, wie schon gesagt, eine Neuorientierung in der
Behindertenhilfe diskutiert, mit Zielen und Leitlinien wie Rehabilitation,
Prävention, Integration.
Diese Neuorientierung in der Behindertenhilfe gründet wesentlich in einer neuen Sicht des behinderten Menschen. Bis Mitte der siebziger Jahre, zum Teil noch darüber hinaus, dominierte in der Fachdiskussion ein 'medizinisches Modell' von Behinderung:
Am behinderten Menschen interessierte in erster Linie das physiologisch- medizinische Problem; der Behinderte galt als ein im ganzen 'unnormaler' und somit nicht vollwertiger Mensch.
Das Problem der Behinderung wurde zudem als ein ausschließlich individuelles gesehen, mit dem jeder - außerhalb der medizinischen Versorgung - selbst zurecht kommen mußte.

Im Laufe der siebziger und achtziger Jahre hat sich dagegen ein 'soziales Modell' von Behinderung durchsetzen können.
Ein behinderter Mensch wird jetzt, trotz seines wie immer gearteten Leidens, als ein vollwertiger und in jeder (anderen als medizinischen) Hinsicht normaler Mensch gesehen, mit denselben Bedürfnissen und Ansprüchen wie gesunde Menschen, auch mit
denselben Fähigkeiten zu Freude und Lebensgenuß. Behinderung gilt
gleichzeitig nicht mehr als nur individuelles Problem. Man anerkennt eine Behinderung stattdessen als weitgehend 'durch die Gesellschaft vermittelt':
durch eine Gesellschaft, deren Strukturen und Rahmenbedingungen auf die spezifischen Anforderungen behinderter Menschen nicht ausgelegt sind und deshalb Behinderung erst schaffen: Nicht die individuelle Abhängigkeit von einem Rollstuhl hindert die Mobilität eines gehbehinderten Menschen, sondern die fehlende Gehwegabschrägung auf öffentlichen Straßen und Wegen oder die fehlende Rampe bei Treppen.

Über dieses neue Bild von Behinderung besteht in der Fachwelt inzwischen Einmütigkeit. Auch in der Öffentlichkeit setzt es sich zunehmend durch. Dieser Wandel läßt sich unter anderem an der Entwicklung der Rechtssituation von behinderten Menschen ablesen.

Was diese neue Bewertung von Behinderung für die Praxis der
Behindertenhilfe an Neuorientierung bedeutet, welche Umorganisationen sie erfordert, darüber wird gegenwärtig diskutiert. Fest steht nur die Richtung des Weges: weg von den hergebrachten Prinzipien Barmherzigkeit, Almosengeben, Versorgung, bürokratische Reglementierung - hin zum Prinzip Normalität, Integration, Autonomie, Partizipation.
Hilfe soll in Zukunft eine möglichst selbständige Lebensform ermöglichen. Diese wird, je nach Form und Grad der Behinderung, verschiedene Formen haben. Grundsätzlich gilt: Selbst schwerstbeeinträchtigte Menschen haben das Recht auf Autononomie. (Das neue Betreuungsrecht liefert ein
anschauliches Beispiel hierfür.) Es ist kein Zufall, daß diese neuen Gedanken zuerst von Selbsthilfegruppen ins Spiel gebracht wurden.
Besonders deutlich wird der Paradigmenwechsel von Fremd- zu Selbstbestimmung bei der Kritik an der Versorgung in stationären
Behinderteneinrichtungen, die - wo immer möglich - durch Hilfe zum Leben in selbständiger Wohnung ersetzt werden soll. Hier hat die Gesellschaft relativ rasch reagiert: Behindertenwohnungen gehören inzwischen zum Standard im modernen Wohnungsbau. Die DIN Normen 18024 und 18025 geben präzise Hinweise zur Gestaltung einer behindertenfreundlichen Wohnung oder einer
behindertenfreundlichen Stadt und Gemeinde.

Kritisiert wird in jüngerer Zeit vor allem die "Totalisierung der
Wohlfahrtsfunktion des Staates" (Bossle/Radnitzky 1982) mit ihren
traditionellen Formen sozialstaatlicher Hilfe: "Gemeint ist, daß die in modernen Gesellschaften dominierende Form des Helfens durch Experten in Institutionen offenbar von einer wachsenden Zahl von Menschen nicht mehr als ein Gewinn, sondern als Einbuße an persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten, ja als Entmündigung erfahren und deshalb zurückgewiesen, jedenfalls innerlich abgelehnt wird. In dieser Perspektive ist nicht so sehr fehlende Hilfe das Problem, das gerechtfertigt werden muß. Hilfe in ihrer institutions- und
professionsgebundenen Form gerät umgekehrt zur eigentlichen Behinderung und damit zum zentralen Legitimationsproblem." (Georg Antor 1985)

Alle diese neuen Entwicklungen könnten, wie schon gesagt, das Thema 'Tier- bzw. Hundehaltung durch und für Behinderte' begünstigen. Doch weder die Wissenschaft noch die berufliche Praxis hat dieses Thema bisher in angemessener Weise beachtet.

 

3. Zur Lebenssituation behinderter Menschen in Deutschland
Vergegenwärtigen wir uns in aller Kürze die Lebenssituation von behinderten Menschen in Deutschland. Die Situation ist, ungeachtet aller neuer Prinzipien, in vielerlei Hinsicht belastend:

Das beginnt mit praktischen Bewegungs- und Orientierungsproblemen. Unsere bauliche Umwelt hält eine Fülle von Widerständen bereit, deren Überwindung mühsam ist oder Hilfe verlangt. Zivilisationstechniken setzen die vollkommene Beherrschung aller Sinne und Gliedmaßen voraus.
Wer Verkehrsmittel benutzen will, braucht Arme und Beine, Augen und Ohren.
Er muß sich zur vollen Höhe aufrichten, Treppen steigen, Geldmünzen
einwerfen und Fahrpläne lesen können. 'Behindertengerecht' oder
'behindertenfreundlich' sind unsere Städte noch längst nicht, normale
alltägliche Lebensvollzüge werden etwa für Gehbehinderte aufgrund fehlender Rampen an Treppen und Schwellen zum buchstäblichen Hindernislauf, Ladengeschäfte und Behörden sind unerreichbar, Aufzugknöpfe und Lichtschalter liegen zu hoch, Türöffnungen und Fußwege bieten keinen ausreichenden Raum für Rollstuhl oder Gehhilfe, Bürgersteige in ausreichender Breite werden rücksichtslos zugeparkt.
Mobilität und Unabhängigkeit sind somit durch strukturelle
Rahmenbedingungen in schwerster Weise beeinträchtigt.
Selbst für Behinderte, die seelisch und intellektuell sehr wohl in der Lage wären, ein 'selbständiges Leben zu führen', bleibt dieser Wunsch aufgrund struktureller Probleme oft Theorie. Wer solche Zivilisationstechniken nicht kann, fällt auf, und mehr: Er 'stört', er braucht Nachsicht oder Rücksicht, er ist auf Hilfe angewiesen.

Diese Abweichungen von der Norm können Abweichungen der psychischen Konstitution des Individuums nach sich ziehen. Behinderte ziehen sich unter Umständen in sich selbst zurück, meiden Kontakt oder werden rebellisch. Im Falle des Rückzugs droht fortschreitende Isolation bis zu völliger Einsamkeit.
Die Heiratschancen sinken, der Freundeskreis schrumpft. Dabei handelt es sich bei dieser Entwicklung häufig um eine Fülle von Mißverständnissen, die einander auch gegenseitig verstärken: Der Behinderte weiß, daß er auffällt, und kennt alle Attribute der Hilflosigkeit, die man ihm zuschreibt. Gerade wenn
er sich im Blick auf die vermuteten Schwächen eigentlich gut zu helfen weiß und keiner Hilfe bedürftig ist, wird er Hilfsbereitschaft, Zuvorkommenheit, Freundlichkeit seiner gesunden Mitmenschen u.U. ablehnen:
als Ausdruck gesunder Normalität, die sich zum Kranken barmherzig
herabneigt. Auf diese Weise kann ein Teufelskreis eintreten, der ihn
schließlich womöglich tatsächlich zum 'Sonderling' machen kann: self fulfilling prophecy.

Behindert zu sein bedeutet in vielen Fällen noch immer Stigmatisierung.
Die Einstellungen in der Bevölkerung gegenüber behinderten Menschen haben sich in der Folge von Liberalisierung und Demokratisierung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zwar insgesamt günstig entwickelt (Indizien sind beispielsweise die gestärkte Rechtsposition, die zitierten Din-Normen, Versuche mit integrativen Kindergärten und Schulen, selbstverständliche Gasthausbesuche von Behindertengruppen etc.).
Aber noch immer machen zahllose Vorurteile gegenüber behinderten
Menschen diesen das Leben schwerer als nötig. So werden, wie
Untersuchungen zeigten, z.B. sprachgestörten Menschen folgende
Eigenschaften zugeschrieben:
Einfalt, Dümmlichkeit, mangelnde Beherrschung und Einsamkeit. Selbst
Erzieherinnen und Lehrer charakterisierten in einer Studie diesen
Personenkreis (ohne Menschen mit solcher Behinderung zu kennen !) als schwach, gehemmt, verschwiegen und aggressiv.

Behinderte Menschen gelten den meisten 'Normalen' als hilflos, oft genug aggressiv oder böse. Behinderte Menschen nehmen in einer aus Behinderten und Nichtbehinderten gemischten Gruppe gewöhnlich die niedrigste Rangstufe ein. Sie verfügen nur selten über so viel Reputation wie ein Gesunder.
Skepsis, Angst, gar Ekel und Abscheu sind, vielen Studien zufolge, noch immer bezeichnend für die Einstellungen der Bevölkerung gegenüber Behinderten. Besonders betroffen sind lern- und geistigbehinderte Kinder.

Verhaltensbiologen bewerten solche Einstellungen als typische Zeichen einer 'Ausstoßreaktion', die dem Menschen ebenso wie dem Tier gegenüber 'andersartigen' Gruppenmitgliedern angeboren sei.
So wie in einer Gruppe von Tieren ein schwaches, behindertes Mitglied nicht beachtet oder schließlich weggebissen werde, so ließen sich auch bei Menschen Anzeichen von Ausstoßreaktionen oder Ausstoßaggressionen beobachten. Das Verspotten behinderter Menschen durch Kinder gehöre zum uralten menschlichen Verhaltensrepertoire. Man begegne behinderten Menschen mit einem gewissen 'sozialen Distanzverhalten', dränge sie leicht in
sogenannte 'ökologische Nischen' und mache sie somit zu Außenseitern.
Gleichgültig, ob dies alles zutrifft: Alles käme wohl darauf an, behinderte Menschen vor dieser Ausgrenzung zu schützen: durch integrative Kindergärten und Schulen sowie Arbeits- und Freizeitstätten, die Integration zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen zulassen; nützlich
wären zudem für Behinderte alle jene Attribute, die ihnen auf einer Rangskala höhere Plätze einbringen, d.h. Anerkennung, Prestige und Reputation garantieren.

Prekär bleibt auch meist die ökonomische Lage eines behinderten Menschen.
Trotz aller Fortschritte im Blick auf die Rechtposition bedeutet eine
Behinderung für den Großteil der Betroffenen noch immer erhebliche materielle Einschränkungen und Unsicherheiten. Die neue Pflegeversicherung hat den Behinderten nicht die erhoffte Verbesserung gebracht, eher im Gegenteil.

 

4. Rechts- und sozialstaatliche Hilfen für behinderte Menschen/ Ziele
und Leitlinien der Behindertenhilfe in Deutschland
Wenden wir uns damit den rechtsstaatlichen und sozialstaatlichen Hilfen zu, die Deutschland vorsieht. Welche Ziele und Leitlinien werden verfolgt?

"Wer körperlich, geistig oder seelisch behindert ist oder wem eine solche Behinderung droht, hat unabhängig von der Ursache der Behinderung ein Recht auf die Hilfe, die notwendig ist, um

1. die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu bessern, ihre
Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mindern,


2. ihm einen seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platz in der Gemeinschaft, insbesondere im Arbeitsleben, zu sichern."
(§ 10 Sozialgesetzbuch, Allgemeiner Teil)

 

Das Ziel aller Hilfen ist demnach
- drohender Behinderung vorzubeugen,
- eine vorhandene Behinderung und ihre Folgen
  zu beseitigen oder zu mildern,
- dem behinderten Menschen dadurch die
  Teilnahme am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen,
- ihm zur Ausübung eines ihm gemäßen Berufes oder
  einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu verhelfen,
- ihn so weit wie möglich unabhängig von Pflege
  zu machen.

 

Im Mittelpunkt stehen nach jüngster Auslegung somit die Prinzipien
'Integration', 'individuelle Lebensgestaltung' (auch ein behinderter Mensch hat ein Recht darauf, sein Leben nach individuellem Bedürfnis zu führen), Normalität' (sein Alltag soll sich, mit Ausnahme seines spezifischen Schadens, im großen und ganzen nicht vom Alltag gesunder Menschen unterscheiden),
Autonomie und Partizipation' (er ist frei in der Auswahl der angebotenen Hilfen und bringt sich in jeden Hilfe- Plan ein), und 'Rehabilitation'.

Mit Rehabilitation (Wiedererlangung der Geschicktheit und Selbständigkeit) ist bei einer Behinderung weniger an die Wiederherstellung einer ursprünglich vorhandenen Geschicktheit gedacht als an die Erreichung einer kompensatorischen Geschicktheit, z.B. durch Prothesen, die Schärfung und Übung eines anderen als des beeinträchtigten Sinnes, durch psychische Stützung und sonstige Hilfen.
Rehabilitation gliedert sich auf in medizinische, schulische, berufliche und soziale Rehabilitation.
Als eine besonders wichtige Voraussetzung für gelingende Rehabilitation gelten Motivation und Stärkung des Selbstbewußtseins.

Leitziele der Behindertenhilfe sind also, noch einmal kurz wiederholt,
Integration, individuelle Lebensgestaltung, Normalität, Autonomie und
Partizipation, Rehabilitation.
Es gibt viele Konzepte für die Erreichung dieser Leitziele. Hier einige der wichtigen Stichworte, die gegenwärtig in der Behindertenhilfe diskutiert und erprobt werden und an die sich beim Thema 'Hunde und Behinderte' gut anknüpfen läßt.
Es geht z.B. um lebensweltliche bzw. alltagsweltliche Hilfekonzepte,
interaktionstheoretische Hilfekonzepte, Hilfen zur selbständigen
Haushaltsführung, Hilfen zur Umwelt- und Naturerfahrung, Stärkung des Selbstwertgefühls und der Selbstkompetenz (Prestige), Stärkung der emotionalen, sozialen und kommunikativen Kompetenz, Stärkung der lebenspraktischen Kompetenz, Stärkung eines entwicklungsfördernden Familienklimas, Spielförderung, Verhinderung von psychischen Folgeschäden bei körperlichen Behinderungen etc etc.

Besondere Beachtung verdient vor allem die Gruppe der behinderten Kinder und Jugendlichen:
Behinderte Kinder sind in ihrer emotionalen Entwicklung immer gefährdet. (So zeigen z.B. bis zu 20 % der hörgeschädigten Kinder emotionale Störungen beziehungsweise Verhaltensauffälligkeiten.) Die Sozialisation behinderter Kinder geschieht unter extremen,
belastenden Bedingungen, sei es im Blick auf Hänseleien durch andere Kinder oder im Blick auf Unter- und Überforderung durch Eltern und Umwelt, auf zu wenig oder zu viel Zuwendung und Aufmerksamkeit, zu viel Lob oder Tadel.
Besondere Belastungen bringt die Phase der Pubertät, wenn behinderte Jugendliche möglicherweise erstmals eine Zurückweisung durch das andere Geschlecht erfahren.
Die Gefahr einer zusätzlichen psychischen Störung ist groß. Dabei wäre gerade bei behinderten Kindern die Ausbildung einer stabilen
Persönlichkeitsstruktur besonders wünschenswert: ein Teufelskreis, den Experten aus Theorie oder Praxis der Behindertenhilfe immer wieder als schwer zu durchbrechen beschreiben.

 

5. Zum Schluß nun doch die wichtigsten Ergebnisse:
Zum Schluß wollen wir einige ausgewählte Ergebnisse unserer Fallstudien vortragen, die durch Reinhold Berglers repräsentative Untersuchung mittlerweile zum größten Teil auch quantitativ belegt werden konnten.

 

- Ein Hund hat medizinisch-therapeutische Wirkung

  (Bewegung, Muskeltraining, Mobilisierung, Aktivierung,

   Frischluftzufuhr, Ablenkung von Schmerz, besserer Schlaf).

- Ein Hund fördert die Motivation für rehabilitative Maßnahmen.

- Ein Hund zwingt den behinderten Menschen aus der Wohnung,

  in die menschliche Mit- und Umwelt. Er verhindert die Isolation

  in der Wohnung.

- Ein Hund vermittelt Natur (durch sein eigenes Natur-Sein und

  durch Bewegung im Freien, Erfahrung von Wind und Wetter,

  Düften und Geräuschen).

- Ein Hund hilft zur Normalität (für den Hund ist auch der behinderte

  Mensch ein 'normaler', vollkommener).

- Ein Hund vermittelt den Eindruck von Autonomie (eine Aufgabe

  haben und erfüllen können) und Freiheit (Spaziergang als Freiheit

  erleben)

- Ein Hund gibt Sicherheit (vor möglichen Angreifern, im Fal

  eines ausgebildeten Begleithundes auch bei Unfall oder plötzlicher

  Hilflosigkeit);

  zudem bewirkt er auch Selbstsicherheit (man traut sich etwas zu,

  wenn der Hund dabei ist).

- Ein Hund erlaubt Sinnlichkeit und Zärtlichkeit.

- Ein Hund stützt das Selbstwertgefühl (Stolz auf das Tier,

  Stolz auf die Fähigkeit, das Tier selbst zu versorgen,

  Geliebt-werden).

- Ein Hund fördert Kontakt und Kommunikation mit anderen

  Menschen. Er wirkt als "soziales Gleitmittel" (Sam und

  Elisabeth Corson).

- Ein Hund steigert die Reputation (vor allem im Fall eines

  ausgebildeten Hundes; Kinder mit Hund haben mehr Freunde).

- Ein Hund steigert die Lebensfreude (Lachen, Spielen,

  Spazierengehen im Freien, Zärtlichkeit, Kontakte zu

  anderen Menschen).

- Ein Hund hat günstige Wirkungen auf das Familienklima.

  Er entkrampft das oft angespannte Verhältnis zwischen einem
  behinderten Menschen und seiner Familie bzw. seinen Betreuern.

- Ein Behindertenbegleithund leistet technische

  Hilfsdienste (Tür öffnen, einkaufen, heruntergefallene Dinge

  vom Boden aufheben etc).

  Er fördert damit in besonderer Weise die Autonomie.

  Entsprechend der oben erwähnten 'kompensatorischen

  Geschicktheit' dient er der Rehabilitation im engeren Sinne.

  Er erlaubt dem behinderten Menschen die eigene Auswahl

  zwischen verschiedenen Formen von Hilfe. (Über den ausgebildeten

  Begleithund wäre in einer längeren Fassung dieses Berichts

  noch vieles zu sagen.)

 

Aus alledem folgt:
Es gibt viele Hinweise dafür, daß Kontakt zu Hunden nicht nur die
Lebensfreude eines behinderten Menschen zu steigern vermag, sondern daß dieser Kontakt sogar Wirkungen zeigt, die im engeren oder im weiteren Sinn den Prinzipien und Leitzielen moderner Behindertenhilfe entsprechen.

Es fällt sicher nicht schwer, die genannten Hinweise jeweils unter dem
passenden Leitziel einzuordnen: Rehabilitation, Prävention, Integration, individuelle Lebensgestaltung, Normalität, Autonomie und Partizipation, Rehabilitation.

Wir beschließen diesen Bericht mit einigen Sätzen der Betreuerin einer Gruppe von Behinderten mit Begleithunden. Diese Sätze fassen viele Aspekte zusammen, die unsere Studie als wichtig erkannte:

"Der Mensch verändert sich im Zusammensein mit seinem Hund.
Sie werden lockerer, ihre Krankheiten werden scheinbar sekundär.
Die Sorge um den Hund bestimmt jetzt sein Leben, sie haben eine Verpflichtung. Das Tier bewertet kein Aussehen, keine körperliche Unzulänglichkeit, wie es die Menschen tun.
Der Hund gibt seinem Besitzer ein Gefühl der Sicherheit und Unabhängigkeit und gibt ihm damit ein Stück Lebensqualität zurück. Aber nicht nur der Behinderte, auch seine Familie schöpft durch den Hund neue Kraft."

 

 


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